Achtsamkeit, Alexandertechnik und Inklusion

Die Sonderpädagogin Helena Ploß arbeitet an einer inklusiven Hauptschule in Nordrhein-Westfalen. Sie sucht nach Wegen für mehr Achtsamkeit in ihrem Beruf. Dabei hilft ihr auch ihre Ausbildung in der Alexandertechnik.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Das Interview führte Janna Degener-Storr.

Welches Potential sehen Sie in der Achtsamkeit für die Inklusion?

Helena Ploß: Unter Achtsamkeit verstehe ich Momente, in denen ich neugierig beobachte, was gerade ist. Diese Momente sind von einer Haltung geprägt, in der es erst einmal keine Beurteilung der Situation gibt. Es geht also darum, mit einem neutralen Blick auf Bedürfnisse und Wahrnehmungen, Grenzen und Potenziale zu schauen.

Die Arbeit als Sonderpädagogin zeichnet sich für mich im Kern durch eine Haltung aus, die sich ganz ähnlich beschreiben lässt: In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit besonderem Unterstützungsbedarf geht es darum, Menschen in ihrer Individualität mit ihren Ressourcen und Einschränkungen urteilsfrei zu sehen.

Eine solche Haltung ist es auch, die für mich ganz allgemein die Arbeit im pädagogischen Kontext, und damit auch in der Inklusion, prägt. Achtsamkeit zu üben, das bedeutet im Rahmen der Inklusion, immer wieder innezuhalten und diese Perspektive für alle Lernenden und Mitarbeitenden an der Schule in den Fokus zu holen und im Alltag erlebbar zu machen.

Dadurch kann sich Schulkultur verändern hin zu einem positiveren Miteinander und gegenseitiger Wertschätzung. Durch die Wahrnehmung unterschiedlicher Befindlichkeiten können wir so einen gemeinsamen Entdeckergeist entwickeln.

Welche Schwierigkeiten erleben Sie beim Versuch, Achtsamkeit im inklusiven Kontext zu leben?

Ploß: Im Alltag erlebe ich, dass die Inklusion ein Brennglas für Schwierigkeiten ist, die strukturell im Schulsystem angelegt sind. Im Unterricht fehlt es an Zeit, um die Bedürfnisse der einzelnen Schülerinnen und Schüler wahrzunehmen und sich diesen zu widmen. Und das tut besonders weh, wenn es sich um besondere Bedürfnisse handelt. Unter Zeitdruck fällt es dann sehr schwer, sich Zeit für Achtsamkeitsübungen zu nehmen.

Ein anderes Hindernis sehe ich im allgegenwärtigen Leistungs- und Bewertungsdruck. Die von außen vorgegebenen Inhalte und das Wissen um die Benotung dominieren das Lehr- und Lerngeschehen. Und das bedeutet für alle Beteiligten Stress. Es ist herausfordernd, vor diesem Hintergrund zurückzutreten und zu sagen: Wir begegnen uns in Momenten der Achtsamkeit jetzt mal ganz unvoreingenommen und ohne Bewertung.

Ich suche nach Möglichkeiten, innerhalb dieser Strukturen Momente der Achtsamkeit möglich zu machen.

Was muss sich strukturell ändern, damit die Widersprüche von Inklusion und Achtsamkeit im Schulalltag beseitigt werden?

Ploß: Ich habe mich davon verabschiedet, auf große Reformen im Schulsystem zu warten. Ich suche lieber nach Möglichkeiten, innerhalb dieser Strukturen Momente der Achtsamkeit möglich und für andere erfahrbar zu machen.

Würden Sie trotzdem von Ihrer Schule der Träume erzählen?

Ploß: Da gäbe es keinen Druck von außen, kein Pensum, das in einer bestimmten Zeit geschafft werden muss. Da hätten die Lehrerinnen und Lehrer die Möglichkeit, gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern Fahrpläne aufzustellen und sie dabei zu begleiten: Was steht als nächstes bei dir an? Was möchtest du lernen? In welchem Zeitraum ist das wohl möglich? Es gibt Reformschulen, die genau an solchen Stellen ansetzen.

Die Möglichkeit, Achtsamkeit im normalen Alltag zu üben und anzuleiten, wäre in der Schule meiner Fantasie Standard und keine Extraaufgabe. Es wäre ein Ansprechpartner da, der nichts anderes zu tun hat, als immer wieder den Fokus auf die Achtsamkeit zu lenken, der den Prozess begleitet, neue Ideen einbringt und bei der Umsetzung hilft.

Dadurch würden viel mehr Lehrkräfte das Thema in den Blick nehmen, es wäre für alle präsent und man würde sich darüber austauschen: Wer hat welche Erfahrungen gemacht? Was tut den Lehrkräften gut? Was tut den Schülerinnen und Schülern gut und was tut gerade denjenigen mit Unterstützungsbedarf gut?

Achtsamkeit im Alltag lebe ich dann, wenn ich einen Schritt zurücktrete und mir Zeit für Achtsamkeit nehme.

Wie schaffen Sie es, im inklusiven Alltag Achtsamkeit zu leben?

Ploß: Ich beobachte, was mich bei der täglichen Arbeit immer wieder blockiert, wie ich mich von diesen Herausforderungen triggern lasse. Meist muss ich mir dann eingestehen, dass ich diejenige bin, die die Bedingungen als schwierig oder hinderlich bewertet, und dass ich es mir mit meinen Gewohnheiten und persönlichen Denk- und Reaktionsweisen schwer mache. Achtsamkeit im Alltag lebe ich dann, wenn ich einen Schritt zurücktrete und mir Zeit für Achtsamkeit nehme. Es wird mich niemand dafür verurteilen, im Gegenteil haben alle einen Gewinn dadurch.

Wie hilft Ihnen die Alexandertechnik* dabei, im inklusiven Kontext achtsam zu arbeiten?

Ploß: Kurz gesagt, basiert der Prozess der Alexanderarbeit auf folgenden Kernideen: Gewohnheiten aufdecken, Wahrnehmungen prüfen, innehalten, loslassen, Neues ausprobieren, Wesentliches entdecken. Es kann dabei um ganz unterschiedliche Dinge gehen wie Körperhaltungen, mentale oder emotionale Reaktionsmuster. Durch verbale Anleitungen oder Berührungen begleite ich als Lehrerin diese Schritte, die nur in der Achtsamkeit gegangen werden können.

In der inklusiven Schule unterstützt mich das in ganz unterschiedlichen Situationen dabei, aus dem Hamsterrad auszusteigen und für mich zu sorgen: Wie löse ich mich von Zeit- und Erwartungsdruck? Wie helfe ich einem Kind dabei, sein Stresslevel in dem Geschehen herunterzufahren, seine Sitzhaltungen und Schreibbewegungen zu verändern, mit Kopf- oder Rückenschmerzen umzugehen?

Kinder, die emotional oft überreagieren, können so Wege finden, anders mit Konfliktsituationen umzugehen. Kinder mit dem Förderschwerpunkt Sprache finden dadurch andere Möglichkeiten, mit ihrer Stimme zu experimentieren.

Wie setzen Sie die Techniken konkret ein?

Ploß: „Geht bitte nach hinten zu euren Kisten und holt euer Material heraus“ – schon dieser Auftrag an eine Schülergruppe bietet viele Möglichkeiten zum Experimentieren: Am ersten Tag sollen die Lernenden das Material vielleicht ganz schnell holen, am zweiten Tag vielleicht im Zeitlupentempo, am dritten Tag sollen sie die Aufgabe perfekt erledigen und am vierten Tag ist klar, dass es keine Bewertung dafür gibt.

In Beobachtungs- und Reflexionsaufgaben richten wir dabei den Fokus auf verschiedene Fragen. Zum Beispiel: Wie stehe ich vom Stuhl auf? Welches Körperteil nehme ich besonders wahr? Spüre ich meinen Atem? Kriege ich mit, dass etwas im Weg steht? Sehe ich, ob mich andere anlächeln?

Wenn man solche kurzen Sequenzen im Schulalltag an verschiedenen Stellen einbaut und mit den Kindern erforscht, was sich dadurch verändert, ebnet man den Weg für mehr Achtsamkeit.

Wie nutzen Sie die Alexandertechniken im Kontakt mit einzelnen Schüler*innen?

Ploß: Ein Beispiel: Ich versuche, den Schüler mit einer achtsamen Haltung zu begrüßen, ohne nebenbei darüber nachzudenken, was ich für die Stunde geplant hatte. Ich sage und meine „Schön, dass du da bist“, frage, wie es ihm geht, und höre ihm zu, wenn er antwortet.

Ich frage ihn, ob es okay für ihn ist, wenn ich ihm die Hand reiche, und versuche, die Situation für einen längeren Kontakt zu nutzen, um darüber etwas über die Befindlichkeiten meines Gegenübers zu erfahren und ihm dazu eine Rückmeldung zu geben: „Ich merke, dass du aufgeregt oder total müde bist. Stimmt das?“ An so einen Austausch kann ich mit einer Minisequenz wie einer Körperreise andocken: „Deine Hand ist kalt. Gibt es noch andere Körperstellen, die gerade weniger kalt sind?“. Dann haben wir eine Präsenz und können uns um die unterrichtlichen Themen kümmern.

Wenn ich den Anspruch habe, dass Achtsamkeit Stille bedeuten muss, hilft das im Schulkontext auch nicht weiter.

Gibt es bestimmte Techniken, die bei Ihren Schüler*innen nicht gut ankommen?

Ploß: Achtsamkeitsübungen funktionieren nicht gut in Klassen, die ich noch gar nicht kenne. Und wenn ich den Anspruch habe, dass Achtsamkeit Stille bedeuten muss, hilft das im Schulkontext auch nicht weiter. Die Alexandertechnik hilft mir, viele Übungen in Bewegung zu machen und in aktionsreichen lauten Situationen Achtsamkeitsmomente zu finden oder zu kreieren.

Welche Momente machen Ihnen in Ihrer Arbeit besonders große Freude?

Ploß: Ich genieße und feiere Momente, in denen ich selbst achtsam bin, zum Beispiel, wenn ein Schüler oder ein Kollege ein Bedürfnis äußern möchte und es mir gelingt, aufmerksam und offen zuzuhören, ohne gleich den passenden Ratschlag parat zu haben. Oder wenn ich von einem Klassenzimmer zum anderen gehe, ohne zu hetzen, und merke, dass meine Schulter vom Tragen meiner Tasche angespannt ist und dass ich die nächsten 30 Meter mit mehr Leichtigkeit gehen kann. Es klingt irgendwie so hochgestochen, aber in solchen Momenten bin ich wirklich glücklich.

*Die Alexander-Technik ist eine pädagogische Methode und beschäftigt sich mit dem Erkennen und Ändern von Gewohnheiten, besonders von körperlichen Fehlhaltungen, die sich durch Verspannungen, Schmerzen oder Funktionseinschränkungen äußern. Die Alexander-Technik bietet eine individualisierte Methode, um Fertigkeiten zur Selbsthilfe zu erlernen. Benannt ist sie nach ihrem Begründer Frederick Matthias Alexander.

Für ein inklusives Achtsamkeitskonzept

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  • Helena Ploß: privat